Mystischer Nadelwald des Rotmoos
Der Sumpfpfad führt uns zu einer Abzweigung. Wir folgen dem Weg nach links Richtung Grosse Honegg. Nach einer Weile treten wir aus dem mystischen Wald hinaus und überqueren eine Weide. Hier passieren wir die ersten mächtigen Ahorne, die als Schattenspender auf der Kuhweide stehen. Noch sind die Bäume kahl und die Kühe im Stall, doch wir können uns die sommerliche Alpenidylle gut vorstellen.
Zeichen der Landschaftsgöttin
Bald stehen wir vor einem Wegweiser, der uns Richtung Bürkeliahorn führt. Wir folgen einer Schotterstrasse den Hügel hinauf zum Hof Ober Scheidzun. Einen Moment lang lassen wir das Panorama auf uns wirken. Der Hohgant ragt wie eine gewaltige Burg in den Himmel, rechts davon der Grünebergpass und die unverkennbare Felsformation der Sieben Hengste, die aussehen, als würden sie auf den halbmondförmig geschwungenen Grat der Sichle zugaloppieren.
Es ist, als ob die Berge uns mit ihren markanten Formen Zeichen senden, die auf die magische Kraft des Talkessels hinweisen. Pier Hänni schreibt in seinem Buch: «Hier fliessen aus allen Richtungen herabsprudelnde Bäche zusammen. Solche Talkessel gelten entsprechend ihrer Signatur als Schoss einer Landschaftsgöttin.» Dass bei diesem Anblick eine Göttin ihre Finger im Spiel hatte, scheint uns keine abwegige Vorstellung zu sein.
Atemberaubendes Panorama
Wer sucht, der findet – oder auch nicht
Gleich hinter dem Hof führt der Weg die steile Matte hinauf. Hier soll der über fünfhundert Jahre alte Bergahorn gut hundert Meter östlich auf der Alpweide stehen. Doch als wir auf halber Höhe stehen bleiben und uns umsehen, sehen wir weit und breit keinen Baum. Wir rätseln, ob wir noch weiter östlich über die immer steiler werdende Weide klettern sollen.
Als ich einige Meter weitergehe, erspähe ich hinter einem Einschnitt im Hang eine Baumkrone. Beim Ahorn angelangt, sehen wir, dass sein Stamm zwar hohl, doch der Eingang selbst für eine Elfe sehr klein ist, geschweige denn für einen Menschen.
Pier Hänni beschreibt in seinem Buch einen Stamm, in den man hineintreten und sich wie in einer Kapelle fühlen kann. Wir stehen offenbar vor dem falschen Baum. Doch das mächtige Geäst der Baumkrone strahlt eine beruhigende Wirkung aus und durch die grellen Sonnenstrahlen wirken die Äste von unten wie schwarze Arme, die sich schützend über uns ausbreiten. Der Baum lädt uns zu einer kurzen Rast ein, bevor wir wieder auf den Wanderweg zurückkehren.
Wir beschliessen, dass jeder Mensch Fehler macht, warum also nicht auch der Autor, der in einem schwachen Moment körperlicher Verausgabung möglicherweise Osten und Westen verwechselte?
So wandern wir gut hundert Meter westlich, in der Hoffnung, unseren Baum auf dieser Seite der Alp zu finden. Doch Fehlanzeige! Kein hohler Baum weit und breit. Wir geben auf und wandern weiter in Richtung Grosse Honegg.
Kraftorte am Wegesrand
Auf dem Grat der Honegg blicken wir über die Hügel des Emmentals und des Napfgebietes. Im Südwesten steht die Pyramide des Niesen. Die Aussicht ist überwältigend und entschädigt uns dafür, dass wir den besagten Baum nicht gefunden haben.
Stattdessen entdecken wir auf unserer Wanderung viele andere wunderbare Dinge: Weisse und violette Krokusse spriessen wie Magic Mushrooms aus dem Boden. Rotmilane ziehen ihre Kreise am Himmel. Felsbrocken ragen wie Steingeister aus der Wiese und die zerfurchten Baumrinden der alten Bergahorne erzählen uns beim genauen Hinsehen ihre ganz eigene Geschichte.
Wir haben die Schweiz heute von einer magischen Seite erlebt, die uns im Alltag oftmals verborgen bleibt. Wenn wir uns die Zeit nehmen, die Natur zu entdecken, ihr zuzuhören, ihre kleinen Wunder zu bestaunen, dann können wir uns überall mit ihr verbinden und Kraft tanken. Dabei benötigen wir auch nicht unbedingt ein Buch oder eine Karte. Wir können die magischen Plätze auch ganz einfach selber finden.
Von: Emmental Tourismus
Text & Bilder: Sabine Zaugg